Heute Nacht war es recht kalt. Meine Wäsche ist nur teilweise getrocknet. Wir haben eine kurze Etappe vor uns und treffen uns erst um 8:00 Uhr zum Frühstück. Die Jagd nach den Stempeln ist auch eingeschlafen. Nur wenn eine Kirche oder Mairie offen ist, dokumentieren wir dieses im Pilgerpass. Die größtenteils hässlichen Bar-Stempel sparen wir uns.
Die kurze Etappe ist fast beendet, nur die Suche nach der Fraternité Saint Bernard bleibt noch offen. Es ging heute durch viel Wald auf angenehm zu laufenden Wegen. Was mich nervös macht, ist das sich allzeit in Michelles Hand befindende iPhone. War die Welt doch einfach, als man noch denken konnte und nicht alles nachsehen musste! Doch ich sollte darüberstehen und mich nicht dadurch in meiner Ruhe stören lassen. Ihr ist es eben wichtig und so ist es eigentlich völlig o.k. Heute im Wald blieb auch Michelle nichts anderes übrig, als sich auf meine Karte zu verlassen. Das Handy konnte sie nicht orten und ihr den Weg weisen. Mein Gefühl für die Richtung und die gute alte Karte müssen reichen. Wir kommen an einem Via-Francigena-Schild aus dem Wald, sind also richtig. Trotzdem müssen wir am Ziel feststellen, dass wir aus den im Führer angegebenen 14 Kilometern locker 17 gemacht haben. Trotzdem buchen wir das als Ruhetag, es ist unser erster Ruhetag auf der Via. An der kleinen Herberge laufen wir erst einmal vorbei, beim dritten Anlauf finden wir sie. Wir werden von drei Schwestern herzlich aufgenommen. Eine Besichtigung der ehemaligen Abtei, die seit langer Zeit ein Gefängnis ist, wollen wir uns sparen. Irgendwie ist uns nach der über hundert Jahre alten Geschichte des Gefängnisses nicht zumute. Sie könnte uns die Stimmung verderben. Also einfach ausspannen und nichts tun. Den Füßen tut es auch mal gut, nicht in Bewegung zu sein. Im Kopf kreisen dafür Gedanken bis zum Abwinken. Wir erhalten den Schlüssel zur Kirche. Kurz bevor wir da sind, treffen wir Charles, den Pilger aus Schottland. Die Kirche hat eine unangenehme Atmosphäre. Wir können nicht sagen, woran das liegt. Dann besichtigen wir doch noch die Abtei, die ein Gefängnis ist. Das neue Gefängnis ist auf dem Platz errichtet, wo früher die Klosterkirche stand. Die Räume sind nur teilweise sehr gut restauriert, größtenteils aber fast verfallen. Erschreckend ist es, die Zellen für die Gefangenen zu sehen, die so bis 1971 genutzt wurden.
Das Abendessen haben wir zu sechst. Eine Schwester spricht gut Deutsch, Charles gut Französisch. In die Sprachensuppe fließt auch ein Schuss Englisch ein. Eine Schwester ist aus Angola und so sind von uns sechs Personen fünf Nationen vertreten. Wir haben Glück, heute hier untergekommen zu sein, denn heute ist kein Besuchstag im Gefängnis. Die Schwestern beherbergen hauptsächlich die Angehörigen der Gefängnisinsassen, die ihre Verwandten hier besuchen.
Michelle fängt an, die nächsten Tage umzuplanen. Die 38,9 Kilometer für morgen gefallen ihr gar nicht. Für heute zeigt der Schrittzähler auf jeden Fall nur 27.821 Schritte an.